Dieser Beitrag ist Teil der Kolumne von Markus Hansen im Aikidojournal. Er erschien in Ausgabe 77DE.
Domo arigato gozaimashita. Das Training ist beendet, ich löse die Bindung meines Hakama, um ihn zusammenzulegen. „Was ich Dich noch fragen wollte, welche Bedeutung hat dieser gewickelte Knoten, mit dem Du deinen Gürtel bindest?“ Ich wende mich der Stimme zu. Ein junger Aikidoka schaut mich erwartungsvoll an. „Bedeutung?“, frage ich erstaunt. „Ja, Du hast da einen ganz anderen Knoten als ich ihn sonst kenne. Was symbolisiert denn der? Ich kenne nur den Pfeil, der zum Herzen zeigt.“
Mein Obi ist etwas flacher, weicher und breiter als die meisten Budo-Gurte. Ich habe diese Variante beim Iai kennengelernt und schätze sie auch beim Aikido. Es ist ein angenehmes Tragegefühl, auch beim Ukemi, wo ich die etwas dicker abgenähten manchmal als störend empfunden habe. Zum Binden nutze ich auch keinen auftragenden Knoten, da dieser sowohl optisch unschön unter dem Hakama zur Geltung kommt als auch in den Bauch drückt, wenn man bei Katame-Waza darauf liegt. Das ganze ist bei mir mehr so eine Art Gewickel, bis alles hält. Ungefähr so wie bei einem Kaku-Obi im Iaido, aber eben nur ungefähr.
Ich glaube, auch der Pfeil, der zum Herzen zeigt, ist keine Bedeutung eines Knotens, sondern ein veranschaulichendes Bild, mit dem Frischlinge auf der Matte überprüfen können, ob ihr Knoten passt. Wie viele andere Versinnbildlichungen hatte hier sich aber auch diese anscheinend verselbstständigt. Der junge Aikidoka kannte mehrere solcher Geschichten, zum Beispiel, dass ein Hakama genau sieben Falten habe, um die sieben Tugenden der Samurai abzubilden und die furchtlosen Krieger in der Schlacht stets an diese zu erinnern.
Nun sind die sieben Tugenden aus dem gegen Ende des 19. Jahrhunderts in englischer Sprache verfassten Buch „Bushido“ von Inazo Nitobe (der unter anderem in Baltimore, Bonn, Berlin und Halle studierte) überliefert, der darin jedoch einen ungeschriebenen Verhaltenskodex aufzeichnet, der offenbar auch stark von seinen eigenen Idealvorstellungen beeinflusst ist. Tugenden und Kodizes hin oder her – auch bei den Samurai gab es Intrigen, Mord, Verschwörungen und anderes falsches Spiel. So oder so war und ist Bushido keine Nähanleitung für Beinkleider. Außerdem gibt es Hakama in vielen verschiedenen Varianten. Bei einigen Aikido-Richtungen erfreuen sich etwa die Nobakama, die mit weniger Falten auskommen und enger anliegen, großer Beliebtheit.
Für so ziemlich alles, was irgendwie mit Budo zu tun hat, gibt es Deutungen, die sich zu Mythen verselbständigt haben. Diese Verselbstständigung geht zum Teil soweit, dass der Mythos real geworden ist. Als das moderne Gendai Budo im 20. Jahrhundert anfing, sich im Westen zu verbreiten, wurde das Phänomen „asiatische Kampfkunst“ zunehmend in Fachbüchern und schließlich auch in der Populärkultur in beispielsweise Action-Filmen aufgegriffen. Sowohl in den Fachbüchern als auch in den Filmen wurden dabei diverse Mythen transportiert, die sich zum Teil bis heute erhalten haben.
Ein Beispiel ist „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ von Eugen Herrigel (1948, 1953 ins Englische übersetzt und insbesondere in den USA populär). Dieses Buch war prägend für die Rezeption der japanischen Kampfkünste im Westen als Methoden zur Entwicklung der Persönlichkeit, als Wege, die von spirituellen Lehren durchdrungen waren.
Da das Buch einige Verbreitung erlangte, spielten in der Folge auch andere Bücher (z.B. das nicht unerfolgreiche „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ von Robert Pirsig) auf den Titel an oder übernahmen Aufbau, Duktus und Grundaussagen. Die transportierten Mythen wie der des weisen und spirituell geprägten Budo-Lehrers – gern mit Rauschebart und weißen Haaren – oder der starken Verankerung der geistigen Lehren im Zen wurden dabei erst in jüngerer Vergangenheit aufgearbeitet. Eine sehr lesenswerte Analyse stammt von Shoji Yamada: The Myth of Zen in the Art of Archery (kann unter
https://7mh.de/herrigel als PDF-Datei abgerufen werden).
Herrigel, der sich überhaupt nur ein Dojo und einen Lehrer angesehen und diese als exemplarisch angenommen hatte, schildert in seinem Buch diverse Anekdoten über das traditionelle Lernen einer solchen Kampfkunst, um damit seine Thesen über Zen als starkes und prägendes Element in den Kampfkünsten und im Unterricht derselben zu belegen.
Allerdings hatte Herrigels Lehrer Kenzo Awa selbst keine Wurzeln im Zen, viele der geschilderten Dialoge fanden in Abwesenheit eines Dolmetschers statt (Herrigel selbst soll nur bedingt Japanisch gesprochen haben), oder die bewusst sehr frei gehaltenen Übersetzungen des Dolmetschers ließen einen breiten Spielraum zu, so dass Herrigel jeweils das vorfand, was er zu finden erwartete.
Hätte Herrigel diese Erfahrungen nicht in einem Buch publiziert, wäre dies vermutlich ohne Belang geblieben. Aufgrund der Verbreitung des Buches und der darin enthaltenen Ansichten sahen sich aber nicht wenige Anbieter von Unterricht im Gendai Budo im Westen mit einer entsprechenden Erwartungshaltung konfrontiert. Im Effekt einer selbst erfüllenden Prophezeiung gab es daher zunehmend Angebote für Interessenten, die eben dem entsprachen, was Herrigel schilderte. Nachdem das Werk 1956 ins Japanische übertragen wurde, konnte man auch in Japan Anpassungen des Angebots an diese Nachfrage beobachten, die, etwa über Soldaten der amerikanischen Besatzungstruppen, ihren Weg in den Westen (zurück) fanden. Die westliche Nachfrage führte also zu „original japanischen“ Angeboten, die diese Nachfrage befriedigten.
Auch in anderen Büchern existieren Darstellungen, wie westliche Interessenten von japanischen Lehrern lernen. In dem Buch „Autumn Lightning: The Education of an American Samurai“ schildert Dave Lowry, wie er als Jugendlicher einen japanischen Lehrer in den USA fand und von diesem in jahrelangem Einzelunterricht in das System der Yagyu-Shinkage-Ryu, einer Schule des Koryu Bujutsu, eingewiesen wurde. Ähnliche Berichte sind nicht unbedingt selten und werden bei entsprechend erzählerischem Talent der Autoren gern rezipiert.
Auch in der „Budo-Szene“ werden Mythen gern ausgelebt. So gibt es umfangreiche Aufstellungen, welche Graduierungen jeweils welchem Stadium innerer Vervollkommnung entsprechen. Wer entsprechend graduierte Personen kennt oder gar selbst zu diesen gehört, kann da manchmal noch ganz neue Aspekte über die eigene innere Reife erfahren. Auch für die in manchen Systemen üblichen farbigen Gurte finden sich blumige bis blümerante Aufstellungen, was genau die jeweiligen Farben wohl symbolisieren.
Dabei wird gern übersehen, dass viele Lösungen alltäglicher Probleme einfach einem gesunden Pragmatismus entspringen. Die nachträglichen Interpretationen werden zur ursächlichen Bedeutung erhoben, bis es schließlich genau so und nicht anders sein muss, um noch Gültigkeit zu haben. Kleidung zum Beispiel war und ist für Menschen eine allgemeine Notwendigkeit (nur wenige verfügen über hinreichende Fellbehaarung für den Winter), deren Ausgestaltung sich an verfügbaren Materialien, bekannten Bearbeitungstechniken und praktischen Gegebenheiten ausrichtete. Auch wenn später modische Einflüsse wohl unvermeidbar dazukamen, ist es doch sehr unwahrscheinlich (und nicht belegt), dass da ein paar Schneider beisammen saßen und sich überlegten, wie man mit einem Beinkleid wohl ethisch-moralische Vorstellungen abbilden könnte.
„Tja“, erwidere ich, „meine Bindetechnik ist vor allem dazu da, dass die Jacke zubleibt, und der Hakama nicht rutscht. Wenn die eine Bedeutung hat, dann, dass ich es bis heute nicht geschafft habe, eine traditionelle Bindung zu lernen.“ Ich arbeite dran.
Markus Hansen lebt und unterrichtet Aikido in Schleswig-Holstein.
Aikido Kiel
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