
Einmal im Monat geht unsere Aikido-Gruppe nach dem Training noch in eine Kneipe. Zwischen Pizza, Salat und Kaltgetränken schnacken wir dann einen aus. Das Themenspektrum ist dabei recht breit, diesmal geht es um Budo-Filme und -Computerspiele aus den 80ern und 90ern. Drunken Master (ok, der kommt aus den 70ern, aber da durfte ich den noch nicht sehen), Bloodsport, Karate Kid, American Fighter, China O‘Brien. Wir diskutieren Szenen, die uns damals beeindruckten und uns heute doch eher sanft lächeln lassen. Dass der Jean-Claude aber auch immer in einen Gang gejagt wurde, der zufällig genau so breit war, dass er im Spagat oben unter der Decke auf seinen Gegner warten konnte …
Gegner. Die gab es auch in den Computerspielen, die damals noch deutlich einfacher gestrickt waren als heute. Bei International Karate plus etwa gab es den blauen und den roten Gegner, mehr nicht. Ich habe es dennoch – zum Leidwesen meiner Erziehungsberechtigten – bis zum Abwinken gedaddelt und wurde für die ausgefeilte Koordination und Feinmotorik meiner Joystick-Hand immerhin mit einem „third degree black belt“ belohnt. Ich hätte einen Screenshot machen sollen, dann könnte ich diesen erlauchten Grad jetzt mit auf die Lehrgangsausschreibungen setzen lassen.
Ein deutlicher Höhepunkt unter den damaligen Spielen war eindeutig Budokan. Hier ging es nicht nur um Karate, sondern man konnte auch Kendo, Nunchaku und Bo trainieren. Die Trainings-Gegner konnte man in verschiedenen Schwierigkeitsgraden auswählen, und nach der Einheit bekam man von Tobiko-Sensei, einem freundlichen älteren Herrn mit weißem Bart, ein persönliches Feedback, damit man weiter an sich arbeiten konnte. Wenn man der Meinung war, fit genug zu sein, um sich nicht nur Trainingsgegnern zu stellen, konnte man am Turnier im Budokan teilnehmen. Dort gab es der Reihe nach verschiedene Gegner, die mit ihren Graduierungen sowie Stärken und Schwächen vorgestellt wurden. Auf dieser Informationsbasis konnte man auswählen, ob man mit leerer Hand oder einer der Waffen arbeiten wollte.
Bevor nun alle denken, ich habe in meiner Jugend nur Filme gesehen und am Computer gedaddelt: Ich habe auch Bücher gelesen. Und das nicht zu knapp. Als Kind habe ich unter anderem Papiercontainer geentert, um mehr Lesestoff zu finden, denn der Bücherbus der Fahrbücherei kam nur alle drei Wochen zu uns ins Dorf. Gelesen hatte ich inzwischen auch schon einiges über Aikido, über Morihei Ueshiba und seine faszinierende Kampfkunst, die ich seit kurzem zu lernen versuchte.
Masakatsu akatsu, wahrer Sieg ist der Sieg über sich selbst, hatte Morihei gesagt. Klingt super, dachte ich, irgendwie heroisch und so. Es hätte von Tobiko-Sensei stammen können oder von Mister Miyagi. Und im Spiel Budokan wurde mir gezeigt, was damit gemeint war. Denn während man im Turnier einen Gegner nach dem anderen besiegte, lief im Hintergrund ein Algorithmus mit, der die einzelnen Aktionen aufzeichnete, analysierte und darauf basierend den Endgegner errechnete. Im letzten Kampf des Turniers stand man so sich selbst gegenüber, es winkte also eben der Sieg über sich selbst. Endlich hatte ich masakatsu akatsu verstanden.
Zu meiner Ehrenrettung möchte ich einwerfen: Inzwischen sehe ich das doch wieder etwas differenzierter als damals in der zarten Blüte meiner Jugend. Genau wie bei anderen Konzepten auch, die ich schonmal verstanden zu haben glaubte, machten neue Eindrücke und Erfahrungen daraus wieder neue Herausforderungen – nur halt auf einer anderen Ebene.
Eine andere Ebene ist auch, dass ich inzwischen der Erziehungsberechtigte bin, der die Begeisterung des eigenen Nachwuchses – etwa für ein Computerspiel – nicht immer mit der gleichen Euphorie teilt. Mitunter führt diese Euphoriedifferenz zu Konflikten, die es auszutragen gilt. Da nützt auch das treuherzig vorgetragene Argument, die elterliche Euphorie hinsichtlich des Anfertigens von Hausaufgaben werde ja auch nicht geteilt, damit gleiche sich doch alles wieder aus, Papa, eher wenig.
Nun möchte ich mich bei meinem Nachwuchs zwar durchsetzen, aber ihn dabei in der Entwicklung seiner Persönlichkeit fördern und nicht zerstören. Moment – war das nicht auch so ein Aikido-Ding? Den Gegner ins Herz schließen? Der Geist des liebevollen Schutzes? Nicht zerstören, sondern lenken? Ja, da war was. Und auch wenn es mitunter sehr anstrengend ist (und schon gar nicht immer so hinhaut, wie ich mir das wünsche), ich arbeite daran, nach diesen Aikido-Prinzipien erzieherisch tätig zu werden. Ich lerne dabei eine Menge über Aikido.
Früher dache ich mal, irimi wäre eine Art „Augen zu und durch“. Inzwischen bin ich eher bei einem „alle Sinne auf und rein“ – nicht nur auf der Matte, sondern gerade auch, wenn es Konflikte außerhalb gibt. Nichts frustriert den Nachwuchs mehr, als wenn ich überhaupt nicht versuche, seine Perspektive zu erkennen. Das erinnere ich auch noch aus der Zeit, in der ich die andere Rolle hatte. Damals fand ich Eltern unheimlich anstrengend.
Und das sind sie zum Teil ja auch. Während ich mich in meiner Vaterrolle notfalls noch mittels des Eltern-Kind- Machtgefälles (mit einem schalen Beigeschmack) durchsetzen kann, gibt es diese Option gegenüber anderen Eltern natürlich nicht. Und wenn man als Elternheini, pardon, Vorsitzender des Elternbeirates mitbekommt, welches Konfliktverhalten andere Eltern an den Tag legen können, wünscht man sich mitunter, dass sich alle mal ein wenig zurücknehmen und sich mit ihrem inneren Endgegner auseinandersetzen würden. Ja, wenn sie doch nur alle auch Aikido machen würden. Denn im Aikido haben wir das ja alle voll drauf, das mit dem „Gegner ins Herz schließen“ und so. Oder? Oder nicht? Die organisatorische Vielfalt des Aikido deutet an, dass wir nicht alle unsere Mitaikidoka gleichermaßen in unsere Herzen geschlossen haben. Da sind ja nun auch sehr seltsame Typen bei – ich nehme mich da nicht aus – mit denen wir uns auf und neben der Matte auseinandersetzen müssen.
Nicht immer verlaufen diese Auseinandersetzungen friedlich, denn letztlich lernen wir im Aikido doch, dass es völlig egal ist, was Uke macht: Wir setzen uns durch. Wenn er uns auch nur den Hauch eines Ansatzes lässt, treten wir direkt ein und lenken ihn so um, dass wir ihn kontrollieren. Kommt er mit Wumms, drehen wir uns weg und lenken ihn so um, dass wir ihn kontrollieren. Letztlich sind irimi und tenkan, omote und ura eins. „Sich zurücknehmen“ bezieht sich zumeist eher auf den Energieaufwand, der betrieben wird, nicht jedoch darauf, das Ego zurückzunehmen und Uke gar nicht erst zum Angreifer werden zu lassen. Im Gegenteil: Aikido bildet starke Persönlichkeiten heraus. Persönlichkeiten, die gelernt haben, auf der Matte ihren eigenen Weg zu finden und darzustellen. Die technische Vielfalt im Aikido, die wir auf den Matten sehen, ist Ausfluss davon, die sich mitunter in noch mehr organisatorische Vielfalt ergießt. Auch Morihei hat sich von seinen maßgeblichen Lehrern Sokaku Takeda sowie Onisaburo Deguchi – und nicht zuletzt auch vom Hombu-Dojo – zurückgezogen, um seinen eigenen Weg zu gehen. Und da nun in einigen Organisationen Generationswechsel näher rücken, werden wir sehen, ob und wie diese es hinbekommen, den sich stetig verbreiternden Pool hochrangiger Lehrer zusammenzuhalten, ohne Machtgefälle aufbauen und ausnutzen zu müssen.
Ich übe mich derweil weiter am Sieg über mich selbst: Budokan läuft mit einem Emulator nun auch auf meinem Smartphone.

Aikido Kiel
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